ALBERT EINSTEIN UND FRIEDRICH SIMON ARCHENHOLD
Albert Einsteins
erster populärwissenschaftlicher Vortrag über die
Relativitätstheorie in Berlin.
Der Begründer und Direktor der Treptower Sternwarte, ab 1946 umbenannt in Archenhold-Sternwarte,
Friedrich
Simon Archenhold (1861-1939), hatte sich
neben
einer intensiven Forschungsarbeit (einen besonderen Schwerpunkt
seiner wissenschaftlichen Forschung bildete die Sonne)
der
naturwissenschaftlichen Bildung gegenüber einer breiten
Öffentlichkeit verschrieben. Dies versuchte er u. a. neben
Ausstellungen durch öffentliche Vorträge in der
Sternwarte zu erreichen. Obwohl er dabei einen großen Teil des
öffentlichen Vortragsprogramms selbst durchführte,
gelang
es ihm,
zahlreiche bekannte Wissenschaftler und Forscher zu Vorträgen in der
Sternwarte zu gewinnen. Zu den Wissenschaftlern und Forschern, die Vorträge hielten,
gehörten u. a. der Geologe Alfred Wegener (1880-1930), die
Polarforscher Roald Amundsen (1872-1928) und Fridtjof Nansen
(1861-1928) sowie der Raumfahrtpionier Hermann Oberth (1894-1989). |
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Friedrich Simon Archenhold, 1931 |
Der
bedeutendste Gelehrte war aber zweifellos der Physiker Albert Einstein
(1879-1955), der am Mittwoch den 2. Juni 1915 in dem großen Vortragssaal der
Treptower Sternwarte seinen ersten öffentlichen Berliner Vortrag
zur Relativitätstheorie hielt.
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Ausschnitt aus dem Programm der Treptower Sternwarte mit
der Ankündigung von Albert Einsteins Vortrag, 2. Juni
1915 |
Einsteins Vortrag war unter dem Titel
Relativität der Bewegung und Gravitation angekündigt worden und
erfreute sich nach einem Bericht der Vossischen Zeitung in
ihrer Abendausgabe vom 3. Juni 1915 einer "verhältnismäßig großen
Zahl von Zuhörern". Von Einsteins Vortrag liegen uns keinerlei
Schrift- oder Bilddokumente vor, so dass wir nur durch den Artikel in
der Vossischen Zeitung ungefähr wissen was Einstein gesagt
hat.

Einsteins Relativitätsprinzip.
Vortrag in
der Treptower Sternwarte.
Wie
es in der Mathematik keinen besonderen Königsweg
gibt, so lassen sich auch die Einsichten in gewisse
Grundfragen der Physik nicht ohne Kenntnis
bestimmter naturwissenschaftlicher Tatsachen, nicht
ohne Zuhilfenahme der Mittel der höheren Mathematik
klar gewinnen. Was für das leibliche Auge das
Mikroskop und das Fernrohr sind, das bedeuten in
gewisser Beziehung Differential- und
Integralrechnung für das geistige Auge. Will oder
muß man auf diese Stützen verzichten, so kann man
nicht erschöpfend erklären, sondern nur andeutend
hinweisen.
In dieser Zwangslage befand sich gestern Prof. Dr.
Albert Einstein, das jüngste Mitglied unserer
Akademie der Wissenschaften, als er vor einer
verhältnismäßig großen Zahl von Zuhörern in der
Treptower Sternwarte die „Relativität der
Bewegung und Gravitation“ erläutern wollte. Der
Schöpfer oder Mitschöpfer des Relativitätsprinzips
versuchte – unter Verzicht auf alle mathematischen
Ableitungen – klarzulegen, wie Ort und Zeit nicht
voneinander zu trennen, wie Längen und Zeiten vom
Bewegungszustand abhängig sind; daraus folgt die
Abhängigkeit gleicher Natur für alle daraus
abgeleiteten anderen Begriffe. Es ist einleuchtend,
daß wir von einer
Bewegung erst dann eine rechte Vorstellung haben,
wenn wir sagen, worauf sie bezogen ist. Erst dann
kann die Bezeichnung Ruhe oder Bewegung einen Sinn
haben. Es kann dabei gleichgültig sein, ob ein
System selbst oder seine Umgebung in entgegengesetzter Richtung bewegt ist. Blicke ich
vom Karussell aus auf einen Baum, so scheint sich
dieser zu bewegen. Sitzt man in einem gut
gefederten, ruhig fahrenden D-Zug, so ist es für
gewöhnlich nicht möglich, zu bestimmen, ob man sich
bewegt. Sieht man zum Fenster hinaus und erblickt
einen zweiten Zug, so scheint der andere zu fahren.
Nur Aenderungen der Geschwindigkeit, rasches
Anfahren oder Bremsen bemerkt man, ferner Krümmungen
der Bahn, da man durch die Zentrifugalkraft nach
außen gedrückt wird. Auch die Bewegung der Erde in
ihrer Bahn um die Sonne ist nicht mit unbedingter
Sicherheit zu erkennen. Alle Bewegungen sind
relativ.
Einstein zeigt in einer auch dem Laien
verständlichen Weise, wie man mit Hilfe eines sogenannten
Koordinatensystems sich die Bewegung
veranschaulichen kann. Mit genügender Annäherung
kann man die Erde selber als ein solches
Koordinatensystem wählen. Es bedarf keiner
übermäßigen Ueberlegung, um zu begreifen, daß mit
Bezug auf ein gegen das ursprüngliche Bezugsystem
(Erdboden) gleichförmig bewegtes System (Wagen) die
Gesetze des Geschehens die gleichen sind, wie mit
Bezug auf das ursprüngliche System (Erde). Wir haben
hier das Relativitätsprinzip der gleichförmigen
Bewegung, das Relativitätsprinzip im engeren Sinne.
Gilt es aber auch – so fragt Einstein weiter – für
die ungleichförmige, für die beschleunigte Bewegung?
Im ersten Augenblick wird man die Frage verneinen.
Aber Einstein zeigt, indem er, von zwei
verschiedenen Bezugssystemen aus, das Fallen von
Körpern beobachtet, daß der Beschleunigung ebenso
wenig eine unbedingte physikalische Bedeutung
zukommt, wie der Geschwindigkeit (der gleichförmigen
Bewegung). Dasselbe Bezugssystem ist mit gleichem
Recht als beschleunigt oder als nicht beschleunigt
anzusehen; je nach der gewählten Auffassung hat man
dann aber ein Schwerefeld als vorhanden anzusetzen,
das zusammen mit dem eventuellen
Beschleunigungszustand des Systems die
Relativbewegung freibeweglicher Körper gegen das
Bezugssystem bestimmt. Fast unbewußt entschlüpfen
dem Vortragenden, als er die Verhältnisse im
beschleunigten System klarlegt und auf dessen
Uebereinstimmung mit dem Schwerefeld
(Gravitationsfeld) hinweist, Ausdrücke wie
Potential. Wir fühlen, wie durch die
Relativitätstheorie im weiteren Sinne auch die
Newtonsche Gravitationstheorie erweitert wird.
Gibt
es nun einen Prüfstein für die Richtigkeit dieser
Anschauungen? Der Lichtstrahl oder vielmehr seine
Geschwindigkeit muß das Kriterium abgeben. Nicht nur
im beschleunigten System, auch im Gravitationsfeld
muß er gekrümmt verlaufen. Seine Ablenkung
(Aberration) wird zwar sehr gering, aber immerhin
unsichtbar sein.1) Aufnahmen von Sternen, die neben
der Sonne erschienen, zur Zeit der Sonnenfinsternis,
können Aufschluß geben. Freilich kann die Ablenkung
nur außerordentlich klein sein, bei der Sonne 0,85
Bogensekunden, bei Jupiter gar nur 1/100
Bogensekunde. Mit Hilfe empfindlicher Apparate läßt
sich aber eine solche Messung durchführen. Im
Auftrage der Akademie der Wissenschaften sollte der
Astronom Dr. Freundlich während der letzten
Sonnenfinsternis solche Messungen durchführen. Aber
der Krieg verhinderte diese Forscherarbeit, die für
unsere Erkenntnistheorie nicht minder wichtig ist,
als für die Fortentwicklung der Physik. Dr. Freundlichs kostbaren astronomischen Apparate
wurden in Odessa beschlagnahmt, ruhen wahrscheinlich
dank den „Kulturträgern des Ostens“ auf dem
Meeresgrund. Aus Beobachtungen bei
Sonnenfinsternissen Schlüsse über die Gültigkeit des
Relativitätsprinzips zu ziehen, müssen wir uns
vorläufig versagen.2) Aber eine andere optische
Erscheinung, das sogenannte Dopplersche Prinzip,
kann die Entscheidung liefern.
Wenn es auch nur Andeutungen waren, die Einstein –
in der knappen Spanne einer Stunde – geben konnte,
so hatte es doch einen hohen Reiz, hineinzublicken
in die Gedankenarbeit unserer modernen Physiker, zu sehen,
wie sie unser Weltbild – wenn auch nicht einfacher –
so doch einheitlicher gestallten wollen.
el.
Quelle:
Vossische Zeitung, Donnerstag, 3. Juni 1915, Nr.
279, Abendausgabe |
1) |
Richtig
muss es „sichtbar“ heißen. |
2)
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Die am 29. Mai 1919
von dem Astronom Arthur Stanley Eddington (1882-1944) beobachtete
Sonnenfinsternis bestätigte Einsteins Vorhersage der
Lichtablenkung im Gravitationsfeld der Sonne, die er in seiner
allgemeinen Relativitätstheorie postuliert hatte. Einstein wurde
über Nacht berühmt. Der Mythos Albert Einstein war geboren. |
Bemerkenswert ist,
das Einstein bereit war, über seine aktuelle Forschungsarbeit vor einem Laienpublikum zu sprechen
(die allgemeine Relativitätstheorie war zu diesem Zeitpunkt noch
nicht vollendet). Dabei war er bemüht
seine Gedanken verständlich, d.h. möglichst ohne Fachausdrücke und
Formeln, zu erklären. Bereits am 26. April 1914
hatte Einstein in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung
in einem längeren Artikel über
die Grundgedanken der allgemeinen Relativitätstheorie
mit dem Titel "Vom Relativitäts-Prinzip" in allgemein
verständlicher Form berichtet. In diese Zeit fiel wahrscheinlich auch die Bekanntschaft zwischen
Einstein und Archenhold, der in seiner von ihm herausgegebenen Zeitschrift Das Weltall
bereits mehrere Artikel zu
den Arbeiten
Albert Einsteins veröffentlicht hatte.
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3
Neubau der Treptow-Sternwarte mit Riesenfernrohr, 1909 |
Selbst nach Beginn der antisemitischen Hetzkampagnen gegen Einstein
ließ Archenhold sich nicht von einer sachlichen Berichtserstattung
über Einsteins Arbeiten abbringen. So erschienen in der Zeitschrift
Das Weltall insgesamt bis 1933 ca. 30 Beiträge zur Relativitätstheorie und ihren Konsequenzen für die
Astronomie.
So
wurde auch der am 2. April 1922 uraufgeführte, fast ausschließlich
aus Trickaufnahmen bestehende Film "Die Grundlagen der Einsteinschen
Relativitätstheorie" von Hanns Walter Kornblum (1878-1970), mit
einem begleitenden und erklärenden Vortrag mehrfach in der Treptower
Sternwarte aufgeführt.
In
der Zeit nach Einsteins Vortrag in der Treptower-Sternwarte
entwickelte sich zwischen Einstein und Archenhold ein kollegial-
freundschaftliches Verhältnis. Sie begegneten sich u. a. bei den
Sitzungen der Physikalischen Gesellschaft oder auch in Einsteins
Wohnung in der Haberlandstraße 5 in Berlin. So berichtet Einsteins
damalige Haushälterin, dass Archenhold oft anwesend war und ihr
öfter Freikarten für Vorträge in der Sternwarte schenkte. Einstein
und Archenhold besprachen und diskutierten neue und zukunftsweisende Projekte, wobei Archenhold erfolglos
versuchte, Einstein für diese zu gewinnen, so zum Beispiel für die
große Mars-Ausstellung von 1926/27 in der Sternwarte. Einstein, mittlerweile zu
einer berühmten Person geworden, erkannte, dass es Archenhold
eher um seinen populären Namen ging. Seine Ablehnung kommentierte er
mit den Worten, dass er nicht "überall als symbolischer Leithammel
mit Heiligenschein" auftreten möchte.
Einstein und Archenhold verband neben gemeinsamen humanistischen
Zielen auch der Wunsch nach der Popularisierung der Wissenschaft.
Vielleicht spielten auch ihre gemeinsamen jüdischen Wurzeln ein
Rolle. Leider stehen uns heute nur wenige Dokumente und Briefe zur
Verfügung aus denen man Näheres über die Beziehung der beiden
erfahren kann.
Friedrich Simon
Archenhold starb am
14. Oktober 1939 kurz nach seinem 78. Geburtstag in Berlin. Mit dem
Machtantritt der Nazis begann auch die Vertreibung seiner jüdischen
Familie. Archenholds Frau und Mitarbeiterin Alice sowie seine Tochter Hilde kamen im Konzentrationslager
Theresienstadt ums Leben. Die Söhne Günter und Horst konnten nach
England emigrieren. Im Dezember 1932 verließ Albert Einstein mit seiner Familie Deutschland
für immer. Er fand eine neue Heimat in Princeton, New Jersey, USA.
Anlässlich des 100.
Geburtstages von Albert Einstein erhielt der große Vortragssaal der
Archenhold-Sternwarte, in dem Einstein am 2. Juni 1915
seinen ersten öffentlichen
Berliner
Vortrag
zur Relativitätstheorie gehalten hatte,
in einer Feierstunde am 15. März 1979 den Namen
Einstein-Saal. Gleichzeitig wurde neben dem Eingang des
Saales eine bronzene Gedenktafel, geschaffen von
dem Berliner Bildhauer und Bronzegießer Hans Füssel
(1897-1989), enthüllt.
In der
Feierstunde, an der u.a. der Bezirksbürgermeister, der
Stadtrat für Kultur sowie Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens teilnahmen, hielt der damalige Direktor der
Archenhold-Sternwarte, Dr. Dieter B. Herrmann, eine
Ansprache über "Einstein, Archenhold und die
Popularisierung der Naturwissenschaften". Der
theoretische Physiker und Astrophysiker Prof. Dr. Hans-Jürgen Treder (1928-2006)
sprach das Grußwort.
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Gedenktafel am Eingang zum Einstein-Saal der Archenhold-Sternwarte, 1979 |
Bildernachweis:
Mit freundlicher Genehmigung der
Archenhold-Sternwarte
Berlin-Treptow: Abb. 1, 2, 3, 4
Literaturnachweis: |
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Dieter B. Herrmann |
Blick in das Weltall
Die Geschichte der Archenhold-Sternwarte |
Berlin 1994 |
Dieter B. Herrmann |
Einstein und Archenhold: zwei
Vorkämpfer für die
Popularisierung der Naturwissenschaften |
Weinheim 2005 |
Vossische Zeitung,
Morgen-Ausgabe |
Albert Einstein: Vom Relativitäts-Prinzip |
26. April 1914 |
Vossische Zeitung,
Abend-Ausgabe |
Einsteins Relativitätsprinzip.
Vortrag in der Treptower Sternwarte. |
3. Juni 1915 |
Friedrich Herneck |
Einstein privat
Herta W. erinnert sich an die Jahre 1927 bis 1933 |
Berlin 1978 |
Hrsg. A. J. Kox, u.a. |
The
Collected Papers of Albert Einstein, Volume 6 |
Princeton
1996 |
Wolfgang H. Günzel |
Berliner Bronzen Brücken
Bauten
Geschichten aus dem Leben des Berliner Metallbildhauers und Bronzegießers
Hans Füssel |
Berlin |
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